Liebe Nutzende der Staatsbibliothek Berlin unter den Linden: Sie befinden sich inmitten eines Kulturkampfes. Auf welcher Seite der Front Sie sich befinden, hängt von Ihrer „Nutzendenanforderung“ ab. Finden Sie es etwa angemessen, dass ein Sonderlesesaal für kostbare Handschriften und Drucke dem wissenschaftlichen Fachpublikum vorbehalten sein müsste, oder sollte man da auch mal rasch seine Mails und Social-Media-Accounts checken können? Möchten Sie in Ihrer Stabi wie gewohnt in aller Stille konzentriert arbeiten, oder wollen Sie doch lieber teilhaben an einem „lebendigen Kommunikationszentrum“, wie es dem neuen Generaldirektor Achim Bonte vorschwebt?
Sollten Sie tatsächlich Ruhe bevorzugen, fliehen Sie besser an die Potsdamer Straße – jedenfalls solange das dortige Haus noch offen ist. In etwa drei Jahren wird nämlich auch der Scharoun-Bau für seine Grundsanierung geschlossen. Auf ein Datum für die Wiedereröffnung will sich in Berlin natürlich niemand festlegen. Bonte sagte in einem Interview mit dem Magazin seines Hauses, was in diesem „Denkmal ab etwa 2040 wieder stattfinden“ könne, werde das Renommee des Hauses in der „zweiten Jahrhunderthälfte“ maßgeblich bestimmen. Aber was soll das Renommee der Stabi in der noch recht langen ersten Hälfte des Jahrhunderts bestimmen? Wie also soll der Kulturkampf ausgehen?
„Wachsender Benutzungsdruck“
Bonte hat jüngst in einem Beitrag zum „Blog-Netzwerk“ seiner Häuser eingeräumt, das „Nebeneinander sich behindernder Nutzungsformen zwischen unterschiedlichen Nutzendengruppen“ selbst verursacht zu haben, indem man den Zugang zu den Sonderlesesälen zur Minderung des „wachsenden Benutzungsdruck“ stärker geöffnet und für deren Nutzung geworben habe. Für diesen Benutzungsdruck, muss man Bonte zugestehen, kann die Stabi nichts. Natürlich flohen, kaum dass das Haus im vergangenen Sommer wiedereröffnet worden war, die Studenten aus dem ebenfalls überfüllten Grimm-Zentrum der Humboldt-Universität in die da noch stillen Räume unter den Linden.
Zur Besänftigung der empörten eigentlichen Nutzer der Sonderlesesäle versichert Bonte, man werde die streitenden Parteien wieder „entmischen“ und das Gebäude „insgesamt besser lesbar“ machen. Konkret bedeute das, einen der Säle für Webkonferenzen zu reservieren und das bisherige Bibliografische Informationszentrum zu einer „Bibliothekslounge“ umzugestalten. Im Gegenzug würden einige Sonderlesesäle wieder ausschließlich den „Spitzenforschenden“ vorbehalten bleiben, „studierende Walk-in-User“ würden dort folglich nicht mehr geduldet.
Es ist nicht zu erwarten, dass der Generaldirektor damit Ruhe in seine Bibliothek bringen wird. Schließlich hat Bonte in dem Interview im Oktober noch bemängelt, das Angebot in diesem „Bibliothekspalast aus dem Jahr 1914“ sei doch „recht stereotyp“. Ob man „bei uns sitzen, stehen oder liegen will, absolute Ruhe oder gute Gesprächsmöglichkeiten sucht“ – er wolle das Haus für jeden Anspruch attraktiv machen. Es dürfe im Prinzip so aussehen wie zur Zeit seiner Errichtung, es sollte aber keinesfalls auch so betrieben werden. In diesem Punkt sei verständlicherweise noch die größte „Überzeugungsarbeit“ zu leisten, da das „zugrundeliegende Bibliotheksbild“ eines lebendigen Lern- und Kommunikationszentrums noch nicht „Gemeingut“ sei.
Pflicht zur Prioritätensetzung
Nun mögen die ganz spezifischen Ansprüche eines Breiten- oder Spitzenforschers im Vergleich zu jenen des Walk-in-Studenten auf der Suche nach einem Liegeplatz in diesem Haus vielleicht eine größere Distanz zum Gemeingut besitzen. Aber sind diese Ansprüche denn nicht durch den eigentlichen Existenzzweck dieses Hauses legitimiert? Nämlich eine „Forschungsbibliothek der Moderne“ zu sein, auch nach 2050? Dieses Leitbild bescheinigte der Stabi 2020 immerhin der Wissenschaftsrat in seinen viel beachteten und gut lesbaren „Strukturempfehlungen zur Stiftung Preußischer Kulturbesitz“.
Man sollte sie als Empfehlung für eine institutionelle Entmischung lesen und nicht im Sinne des Generaldirektors als eine räumliche je nach den körperlichen Bedürfnissen der Nutzer. Als Pflicht zur Prioritätensetzung durch die Hierarchisierung der Ansprüche, woraus sich wieder das Recht der forschenden Nutzer ableiten ließe, bevorzugt zu werden. Warum kann sich die Leitung der Stabi dazu nicht entscheiden?
Vielleicht könnte ein Blick auf das Berliner Bibliotheksangebot in seiner Gesamtheit helfen. Das ist in sich eigentlich schon hinlänglich gemischt. Es gibt rund achtzig öffentliche und immerhin drei Universitätsbibliotheken. Gleichen tun sich diese Häuser aber hinsichtlich ihres Benutzungsdruckes durch die bunte Mischung der Berliner Bevölkerung, auf welche die Stadt bekanntlich sehr stolz ist. Um diesen Druck zu mildern, hat man sich jetzt endlich dazu entschlossen, die Zentral- und Landesbibliothek Berlin durch einen Neubau auf dem Gelände der Amerika-Gedenkbibliothek in Kreuzberg zu erweitern, Baubeginn frühestens 2025.
Das Leitbild für den Neubau soll ein „lebendiges ‚Working und Co-Working‘-Zentrum und zivilgesellschaftliche Aushandlungsplattform“ sein. Dass sie „alle Menschen in Berlin versorgen soll“, mag einer dem Gemeingut verpflichteten Landesbibliothek gut anstehen. Für eine Forschungsbibliothek müsste sich selbst in Berlin ein anderer Versorgungsauftrag begründen lassen.
Veröffentlicht in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 4. April 2023
Quelle: F.A.Z. Bildquelle: Staatsbibliothek Berlin
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