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Mehr Mehrdeutigkeit wagen

Aktualisiert: 15. Feb. 2023


Rainer Langhans und Fritz Teufel riefen 1967 zum Kaufhausbrand auf. Berühmte Philologen hielten das nur für Satire. Dann aber brannte es tatsächlich

Dieser Beitrag erschien am 19. Januar 2023 in der F.A.Z.


Im Dezember 1976 stellte das Bundesverfassungsgericht fest, dass das Landgericht Hildesheim vier Jahre zuvor das Recht des niedersächsischen Volksschullehrers Arthur Sahm auf die freie Äußerung seiner Meinung verletzt hatte. 1970 hatte dieser auf der Straße ein selbstverfasstes Flugblatt verteilt, in dem er sich mit der politischen Vergangenheit des CDU-Bundestagsabgeordneten Otto Freiherr von Fircks während der deutschen Besetzung Polens im Krieg befasste. Fircks habe sich dort an den „nazistischen Untaten während der Besetzung“ beteiligt, wofür man ihn verantwortlich machen sollte.

Das Landgericht gab Fircks recht, der sich wegen des Flugblattes in seiner Ehre verletzt fühlte, und verurteilte Sahm zu einer empfindlichen Geldstrafe. Zwar habe er in seinem Flugblatt nicht wörtlich behauptet, der ehemalige SS-Obersturmführer Fircks habe sich an der „Vernichtung polnischer Menschen“ beteiligt, aber für den „flüchtigen Leser“ auf der Straße habe sich dieser Eindruck „aufdrängen müssen“. Es sei zwar erwiesen, dass Fircks für den SS-Aussiedlungsstab in Litzmannstadt (Łódź) gearbeitet habe, nicht jedoch, dass der sich an Verbrechen beteiligt habe. Sahm jedoch habe diesen Verdacht äußern wollen, das sei auch das Ziel des Flugblattes gewesen. Und das sei üble Nachrede! Das Bundesverfassungsgericht urteilte anders. Es sah einen schwerwiegenden Eingriff in das Grundrecht auf Meinungsfreiheit nach Artikel 5. Die „erhebliche Tragweite“ des Urteils liege in seiner „einschüchternden Wirkung“, schließlich habe das Landgericht mit seiner Feststellung einer „versteckten“ Tatsachenbehauptung durch Sahm diesem eine Äußerung in den Mund gelegt, die er nicht getan habe. Was hatte Sahm wirklich getan? Er hatte einen Text veröffentlicht, dessen Inhalt, so das Gericht, durch „Interpretation“ ermittelt werden müsse. Diese setze „politisch interessierte und aufmerksame“ Leser voraus, nicht den „flüchtigen Leser“ des Landgerichts, befand Karlsruhe. Sahm sei es um eine „eingehende Lektüre“ seines vierseitigen Flugblattes gegangen. Sein Beitrag zum „geistigen Meinungskampf“ falle daher unter den verfassungsrechtlichen Schutz des Prozesses der freien Kommunikation.

Es gibt also nicht nur den Text, sondern auch seinen Leser. Die Verfassung schützt nicht nur die geäußerte Meinung, sondern auch die Erwartung, dass der Leser in der Kunst der Textauslegung über gewisse Grundkenntnisse verfügt. Für einen politisch engagierten Volksschullehrer mag das eine berechtigte Erwartung an die Lektüre seines Flugblattes gewesen sein. Aber wie geriet sie in das seitdem immer wieder zitierte Urteil des Bundesverfassungsgerichts?

Für Christoph Möllers führt die Spur zurück ins Jahr 1967. Möllers, Rechtswissenschaftler an der Humboldt-Universität Berlin und permanenter Fellow am dortigen Wissenschaftskolleg, forscht zu einer Rechtsgeschichte der Meinungsfreiheit. 1967 beriefen sich zwei Berliner Studenten auf ebendiese, nachdem sie wegen vier vor der Mensa der FU verteilter Flugblätter angeklagt worden waren, darin unter der Überschrift „Wann brennen die Berliner Kaufhäuser?“ zur „menschengefährdenden Brandstiftung“ aufgerufen zu haben. Anlass der Flugblätter war der bis heute unaufgeklärte Brüsseler Kaufhausbrand vom Mai 1967, bei dem 323 Menschen ums Leben kamen. Die beiden Angeklagten Fritz Teufel und Rainer Langhans wurden als Gründungsmitglieder der „Kommune 1“ später zu prominenten Figuren der Zeitgeschichte. Der Staatsanwalt forderte Zuchthaus, der Verteidiger Horst Mahler forderte eine Reihe prominenter Professoren auf, in philologischen Gutachten die Unschuld der Kommunarden nachzuweisen. Dass diese im Frühjahr 1968 schließlich freigesprochen wurden, hatten sie angeblich den Gutachten von Peter Szondi, Jacob Taubes, Peter Wapnewski, Eberhard Lämmert und anderen zu verdanken.

Für sie war klar: Die vier Blätter konnten ganz eindeutig nur als Satire gelesen werden, als surrealistische Poetik und ironische Reklame. Aber als Aufforderung, Menschen zu verbrennen? Ein typischer Interpretationsfehler, tadelte Professor Szondi streng in Richtung des Staatsanwalts. Jacob Taubes verstieg sich gar zu der These, diese „turbulenten jungen Bürger“ hätten in ihrer Rolle als Hofnarren der bürgerlichen Gesellschaft doch nur mit Worten gespielt. Ihre Texte seien darum eher ein „Objekt der Religionsgeschichte und Literaturwissenschaft“, aber doch nicht der Rechtswissenschaft. Das Gericht erkannte in den Texten der Kommunarden durchaus viel Närrisches, aber in ihrer Gesamtbetrachtung ließen sie für die Richter trotzdem nur eine Lesart zu: die objektive Aufforderung zur Brandstiftung. Dass Langhans und Teufel dennoch als freie Männer aus dem Gerichtssaal marschierten, hatten sie mitnichten den vom Gericht gründlich studierten Gutachten zu verdanken, sondern allein dem Umstand, dass das Gericht ihnen in dieser Sache keinen subjektiven Vorsatz nachweisen konnte.

Der Irrtum der Philologen


Elf Tage nach dem Freispruch der Kommunarden schritten vier aufmerksame Leser der Flugblätter zur Tat und zündeten in Frankfurt zwei Kaufhäuser an. Szondi rechtfertigte seine Gutgläubigkeit später recht kleinlaut, diese „mögliche Wirkung“ der Flugblätter in seinem Gutachten gar nicht behandelt zu haben. Aber hatten diese jungen Bürger, zu denen die späteren RAF-Gründer Andreas Baader und Gudrun Ensslin gehörten, hinter der literarischen Mehrdeutigkeit der Texte nicht deren eindeutigen Sinn erkannt?


Eine Einordnung des Berliner Prozesses in die Rechtsgeschichte der Meinungsfreiheit ebenso wie in die andauernde Debatte um die Autonomie der Kunst steht für Möllers noch aus. Beginnen müsste sie aber mit einer Analyse des Urteils: Es zeige, dass die Richter mit ihrer Lesart den politischen und ästhetischen Dimensionen der Flugblätter besser gerecht geworden seien als die Hermeneutik der professionellen Philologen. Gingen die Berliner Richter über deren Textauslegung hinaus, weil sie die Flugblätter schon im Geiste der Rezeptionsästhetik lasen, als deren Geburtsstunde in Deutschland Hans Robert Jauß’ Konstanzer Antrittsvorlesung vom April 1967 gilt? Das grundsätzliche Interesse von Möllers gilt der juristischen Konstruktion des Lesers oder Betrachters eines Kunstwerkes, über den sich die Berliner Richter viel mehr Gedanken machten als die professoralen Gutachter. „Jeder unbefangene und unvoreingenommene Leser“, betonten die Berliner Richter immer wieder, musste den Aufforderungscharakter der Flugblätter erkennen.


Wapnewski, der spätere Gründungsrektor des Wissenschaftskollegs, hatte sich in seinem Gutachten noch darüber mokiert, man könne sich schließlich beim Verstehen von Texten nicht am Niveau von „Bild“-Lesern orientieren. Doch, urteilten die Richter, selbst die Angeklagten hätten mit einem entsprechenden „Missverständnis“ ihrer Flugblätter „in Teilen der Bevölkerung“ gerechnet. Das sei vielleicht „fahrlässig“ gewesen, aber eben nicht jener Vorsatz, den ihnen die Richter gerne im Anschluss an den Staatsanwalt nachgewiesen hätten. Das Strafrecht aber kann die Interpretationsoffenheit von Texten nicht bestrafen, auch wenn sie solche Pam­phle­te wie die Phantasien der Kommunarden sind.

Ganz in diesem Sinne, so Möllers, urteilte das Bundesverfassungsgericht später, dass der „kundige Leser“ eines Flugblattes zwischen der Mehrdeutigkeit des historischen Kontextes und einer direkten Beschuldigung durchaus differenzieren konnte. Das Grundrecht auf Meinungsfreiheit zu schützen heißt auch, die Erwartung eines Volksschullehrers zu schützen, dass die deutsche Gesellschaft aus solchen Lesern besteht.


Das ist natürlich eine gewagte These – und eine Zumutung. Lektüren können scheitern, Satire nicht als solche verstanden werden, Kunstwerke können Gefühle verletzen, anstatt den Diskurs zu bereichern. Was sich als der Sinn von Texten herausstellt, kann aber nur das Ergebnis des öffentlichen Streits sein, dessen Schutz Aufgabe des Rechts ist. Wer wie damals schon „mehr Demokratie“ wagen wollte, muss auch Mehrdeutigkeit wagen. Könnte die Bedeutung des Berliner Flugblattprozesses darin liegen, dass schon hier die juristische Interpretation offener Texte weiter war als jene der ­Philologen? Hat die Rechtswissenschaft am Ende gar mehr für die Liberalisierung der deutschen Gesellschaft getan als die Literaturwissenschaftler und Philo­sophen? Wenn Möllers damit richtig liegt, müsste die Geschichten von 1968 womöglich anders geschrieben werden.

Gerald Wagner



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